Kinder kooperieren immer – heißt es zumindest

Aber: Warum hat Dein Sohn dann heute Morgen beim Losgehen in die Kita wieder so lange getrödelt und Dich zeitlich ziemlich in die Bredouille gebracht? Warum wird Deine Tochter immer so bockig, wenn sie einmal alleine aufräumen soll? Warum macht Dein Kind so oft das Gegenteil von dem, was Du ihm sagst? 

In diesem Artikel möchten wir Dir die Grundlagen zum Thema Kooperation erklären – jedenfalls in dem Sinne, wie der dänische Familientherapeut Jesper Juul dieses Wort verstand. Denn seine Definition unterscheidet sich durchaus von unserem alltäglichen Sprachgebrauch.

Was genau meint Kooperation eigentlich?

Grundsätzlich leben wir Menschen in einem fortwährenden Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft bzw. zwischen Individualität und Anpassung. Wir wollen individuell und etwas Besonderes sein und gleichzeitig doch nicht zu stark aus der Masse herausstechen. Wir haben unsere ganz persönlichen Bedürfnisse und sind zugleich soziale Wesen. Wir brauchen unsere Mitmenschen zum Überleben, auch wenn uns das im Alltag nicht immer so bewusst ist. Deshalb kooperieren wir mit ihnen und wollen ein wertvolles Mitglied unserer Gruppe sein. Jesper Juul nennt diesen Zwiespalt den Konflikt zwischen Integrität und Kooperation. 

Für Kinder gilt dieser Konflikt umso mehr, da sie tatsächlich noch auf Gedeih und Verderb abhängig sind von der Fürsorge ihrer Bezugspersonen. Es sich mit den Eltern langfristig zu verscherzen, wäre für ein Kind daher eine sehr beängstigende und auf jeden Fall zu vermeidende Situation.

All diese Abwägungen zwischen den eigenen Bedürfnissen und Wünschen und den Anforderungen der Gruppe bzw. der Eltern, in der Kita, in der Schule etc. finden zum Großteil unbewusst und unwillkürlich statt. Die unbewussten Abwägungsprozesse der Kinder funktionieren dabei schon gar nicht nach unserer erwachsenen Logik. Vielmehr kann sich Kooperation auch durch ein Verhalten ausdrücken, das wir Erwachsenen auf den ersten Blick nicht als solche erkennen würden. 

Kooperation äußert sich nicht immer in Gehorsam, Lieb- und Bravsein 

Kooperation kann auch so aussehen:

  • dass Kinder die Signale (!) der Eltern (oder anderer erwachsener Bezugspersonen) nachahmen. „Signale“ bezieht sich dabei nicht nur auf die ausgesprochenen Worte. Auch die Körpersprache, die Sprachmelodie, die Blickrichtung, der Gesichtsausdruck und vieles mehr zählen zu unseren ausgesendeten Signalen. Worte nehmen neben der Körpersprache dabei sogar eine geringere Bedeutung ein und werden generell überschätzt. Kinder richten sich eben nach dem, was ihre Eltern tun und ausstrahlen, und nicht nach dem, was sie sagen. 
  • dass Kinder auf Gefühle, Bedürfnisse und Erwartungen der Eltern reagieren. Und zwar auch dann, wenn die Eltern sich dieser Gefühle, Bedürfnisse und Erwartungen selbst nicht bewusst sind.
  • dass Kinder aufzeigen: Hier läuft etwas schief, hier passt etwas nicht (beispielsweise passen die Worte nicht zum Tonfall). 
  • dass Kinder durch ihr Verhalten ihre Eltern dazu bringen, sich Unterstützung zu suchen, beispielsweise in Form von Familientherapie.  

Kooperatives Verhalten bei Kindern heißt demnach oft, dass Kinder sprichwörtlich ihren Finger in die Wunde legen. Ein Beispiel dafür ist die klassische Situation beim Losgehen, wenn Mama oder Papa unter Zeitdruck steht und schnell aus dem Hause will. Das Kind spürt: „Meine Mama ist gestresst“ oder auch „Papa würde lieber noch im Bett liegen bleiben“. Es greift den Stress auf und spiegelt diesen. Durch sein Trödeln sorgt es gleichzeitig für Entschleunigung. 

Ein anderes Beispiel sind individuelle Erwartungshaltungen der Eltern, die man auch als „sich selbst erfüllende Prophezeiungen“ verstehen könnte: Sätze wie „Das war ja wieder klar!“ oder „Ich hab’ es Dir doch noch gesagt: Pass auf!“ drücken eine innere Erwartungshaltung der Eltern aus, dass sie sowieso davon ausgehen, dass das Kind ein bestimmtes, unerwünschtes Verhalten zeigen wird. Und genau dieser negativen Erwartung entspricht das Kind dann. Auch Lob und Ausdrücke von positivem Erstaunen wie „Ich habe nicht schlecht gestaunt, dass Du mit Deinem Bruder geteilt hast!“ zeugen davon, dass die Eltern grundsätzlich von einem unerwünschten Verhalten des Kindes ausgehen. Und auch hier wird das Kind der negativen Erwartung der Eltern entsprechen.

Wir kennen es selbst; wie schwer es sein kann, unser Kind immer wieder mit neuen, unbedarften Augen anzusehen und an jede Interaktion ohne Vorerwartungen heranzugehen! Wenn es beim Wickeln einige Male hintereinander mit Gebrüll und Gerangel zugegangen ist. Wenn es (scheinbar) jedes Mal ein Drama ist, vom Spielplatz aufbrechen zu wollen. Und gleichzeitig wissen wir aus eigener Erfahrung und aus den Beratungen mit Eltern, wie schnell sich solche vermeintlich verfestigten Situationen in Luft auflösen können – einfach so oder nach minimaler Verhaltensänderung der Eltern. Und wie schnell wir den ganzen Aufruhr dann auch wieder vergessen haben und uns dem nächsten Brandherd widmen 🙂

Kinder sind vielen widersprüchlichen und unausgesprochenen Erwartungen ausgesetzt

Zusätzlich zu den unausgesprochenen Erwartungen der Eltern kommen auch institutionelle Erwartungshaltungen aus dem Umfeld, der Kita oder der Schule hinzu, denen Kinder ausgesetzt sind. So kann zum Beispiel der Wunsch oder die Erwartung der Bezugspersonen, dass Kinder sich geschlechtskonform verhalten, zu unerwünschtem Verhalten führen. Wenn etwa an Jungen die unausgesprochene Erwartung herangetragen wird, dass „richtige Jungs“ nun einmal wild, stark, laut und frech seien, brauchen wir uns nicht wundern, wenn sie sich genau so präsentieren. Tatsächlich haben sozialwissenschaftliche Studien nachgewiesen, dass Jungen, die in einem Umfeld aufwachsen, das stark zwischen den Geschlechterrollen trennt, aggressiver sind, als Jungen, deren Umfeld flexiblere Geschlechterrollen zulässt. Ein anderes Beispiel: In der Schule wünschen sich die Lehrkräfte zwar, dass die Kinder kooperativ und freundlich sind, schaffen aber durch die Betonung von Wettbewerb und Leistung zugleich einen Selektionsdruck, der unter den Aggressionen und Ellbogenmentalität heraufbeschwört. 

Welche Gründe hat es nun, wenn wir Eltern den Eindruck bekommen, dass unsere Kinder nicht kooperieren?

Wir bemerken den Willen der Kinder zur Zusammenarbeit in der Regel nicht

Erst, wenn Kinder die Kooperation einstellen, fällt uns auf, dass etwas nicht stimmt.

Dabei gibt es in allen Familien so viele Situationen, in denen Kinder im Alltag kooperieren. Überlege gerne einmal, wann Dein Kind kooperiert und Du es ganz selbstverständlich hinnimmst. Zum Beispiel, wenn …

  • Dein Kind Dir zuliebe noch eine Weile ruhig im Bett liegenbleibt, obwohl es schon wach ist.
  • Dein Kind in der Krippe oder der Kita auf Dich wartet, bis es abgeholt wird.
  • Dein Kind sich von Dir wickeln, anziehen, die Zähne putzen, den Fahrradhelm aufsetzen lässt.
  • Dein Kind still puzzelt oder malt, sodass Du ungestört telefonieren oder kochen kannst.

Einmal mehr gilt also: Checke und kenne Deine Privilegien als Erwachsene*r. Du hast die Freiheit, den Takt vorzugeben und festzulegen, was wann gemacht werden soll. Dein Kind kann das nicht. Du hast den Überblick über euer Alltagsgeschehen. Dein Kind hat diesen noch nicht. Du kannst Dir einfach ein Stück Schokolade nehmen oder den Fernseher anmachen, wann immer Du Lust dazu hast. Dein Kind kann das noch nicht. 

Die vielen Situationen gar nicht wahrzunehmen, in denen Dein Kind kooperiert oder etwas für die Gemeinschaft tut, kann für sich genommen bereits eine Verletzung darstellen. Und das gilt auch unter Erwachsenen, ganz besonders in der Partnerschaft. Von Müttern und Vätern bekommen wir häufig den Satz zu hören: „Ich fühle mich nicht gesehen. Meine Anstrengungen werden nicht wahrgenommen.“ Das kann die Beziehung auf Dauer in Gefahr bringen. Und ja, dies gilt auch für die Beziehungsqualität zu unseren Kindern. Es kann sich also insgesamt lohnen, nicht nur auf das zu achten, was nicht funktioniert, sondern auch auf das, was ganz selbstverständlich läuft wie geschmiert.

Sonderfall: Spiegelverkehrte Kooperation

Manchmal bedeutet Kooperation schlicht, das Kinder unser Verhalten kopieren, nach dem Motto: So läuft das hier, dann mache ich das auch so. Manchmal kooperieren Kinder aber auch, indem sie sich genau entgegengesetzt verhalten. In diesem Falle spricht man von spiegelverkehrter Kooperation. Wenn ein Kind zum Beispiel von seinen Eltern fortwährend kritisiert wird, kann es in der Form kooperieren, dass es selbst anderen gegenüber sehr kritisch wird, ständig „herumnörgelt“ oder aber sich selbst übertrieben kritisiert. Oder wenn die Eltern sehr verschlossen sind, kann es sein, dass ein Kind besonders extrovertiert und redselig wird. Im Idealfall schafft das Kind so einen gewissen Ausgleich oder eine Balance im System, zumindest aber findet es so „seinen Platz“ im Gefüge.

Weitere Gründe für Kooperations-Blindheit

Wir haben also gesehen, dass die Kooperation von Kindern Formen annehmen kann, die für uns Erwachsene gar nicht nach Kooperation aussehen. Kooperation auf unbewusste Signale der Eltern kann demnach unerwünschte Folgen haben. Dabei sollten wir uns klarmachen, dass die Aussage „Mein Kind verweigert“ sich zwar erst einmal wie eine objektive Beschreibung anhört, dass sie aber meistens voller Vorannahmen und Interpretationen steckt. In vielen Konfliktsituationen mit unseren Kindern fehlt uns der Kontext: 

  • Häufig überschätzen Eltern, was ein Kind in einem bestimmten Alter überhaupt schon leisten kann. Empathie, Belohnungsaufschub und Einsicht in die Folgen des eigenen Handelns überfordern Kinder oft in ihren kognitiven Fähigkeiten. Diese Fähigkeiten müssen über die gesamte Dauer der Kindheit trainiert werden. 
  • Es kann passieren, dass wir die genauen Gründe für das Verhalten unseres Kindes (noch) nicht kennen.
  • Oft haben wir den „Anfang der Szene“ nicht mitbekommen. Insbesondere bei Geschwisterrivalitäten oder Streit zwischen Kindern ist deshalb Vorsicht geboten, bevor wir uns auf eine Seite schlagen.
  • Wir sind leider selten so objektiv, wie wir glauben. Andere würden dieselbe Situation anders beurteilen.
  • Unser Kind kooperiert, aber es versteht nicht, was wir von ihm wollen. Unsere Anweisungen sind für Kinder selten so klar, wie wir glauben. Wir sagen beispielsweise: „Lauf nicht auf die Straße!“ und das Kind weiß gar nicht, was mit „Straße“ gemeint ist. Es denkt vielleicht: „Straße ist, wo die Autos fahren, aber hier fährt nur ein Bus!“ Oder: „Ok, ich laufe ja auch nicht auf die Straße, ich hüpfe nur auf die Straße!“

Gründe für die tatsächliche Aufkündigung der Kooperation

Kinder kooperieren also die meiste Zeit – auch wenn es in manchen Momenten nicht danach aussieht. Doch es gibt auch Situationen, in denen Kinder tatsächlich die Kooperation aufkündigen. 

In der Regel ist dies der Fall, wenn die Kooperationsbereitschaft – also quasi das Kooperationskonto – des Kindes aufgebraucht wurde. Häufig ist das zum Beispiel nach einem langen Kita-Tag gegeben oder nach einem Wochenende bei der Verwandtschaft, wo das Kind sich die ganze Zeit brav und höflich verhalten hat. Danach ist dann quasi der Tank leer und angestaute Überforderung und Frust müssen abgebaut werden. Da wir Eltern für unsere Kinder den sicheren Hafen darstellen, bekommen wir diese negativen Gefühle dann ganz besonders stark zu spüren. Denn wo soll sich ein Kind schon einmal so richtig gehen lassen und ausweinen, wenn nicht bei seinen engsten Herzensmenschen?

Ein weiterer häufiger Grund für das Versagen der Kooperation ist, wenn ein Kind in seiner Integrität verletzt wurde. Wenn es sich also in seinen persönlichen Grenzen und seiner Würde massiv beeinträchtigt fühlt. Zum Thema Integrität und was es damit auf sich hat, wird es in Kürze hier auf dem Blog einen weiteren Artikel geben. 

Was kannst Du tun, um die Kooperationsbereitschaft Deines Kindes zu fördern?

  • Schreibe Dir jeden Tag drei Dinge auf, die heute besonders gut und unkompliziert geklappt haben.
  • Schreibe Dir jeden Tag eine Interaktion auf, die nicht gut geklappt hat. Überlege, welche Gründe es haben kann, dass Dein Kind in dieser Situation nicht kooperiert hat oder seine Kooperation für Dich nicht erkennbar war.
  • Versuche, an jede Situation neu heranzugehen. Anstatt davon auszugehen, dass Ihr gleich wieder in Streit und Gezeter ausbrechen werdet, gehe davon aus, dass es dieses Mal wieder ganz anders laufen wird. 
  • Bemühe Dich um eine klare und für Dein Kind verständliche Kommunikation. Hierzu wirst Du auf diesem Blog bald einen entsprechenden Artikel finden. 
  • Sei Dir Deiner eigenen Gefühle und Bedürfnisse bewusst. Spüre in Dich hinein und frage Dich, was Du selbst gerade brauchst. 
  • Sprich Deine Gefühle und Bedürfnisse auch Deinem Kind gegenüber aus, anstatt Dich hinter Anweisungen zu verstecken. Dies kann in vielen Fällen die Schärfe aus einem Konflikt nehmen. Es stärkt langfristig die Empathie Deines Kindes und trägt zu einer offenen, wertschätzenden Kooperation unter euch bei.
  • Überlege Dir, welche Signale Du unausgesprochen an Dein Kind versendet hast. 
  • Bestärke Dein Kind in seiner Integrität. Bemühe Dich darum, seine persönlichen Grenzen zu wahren und zu respektieren. Kinder, die in ihren Grenzen und ihrer Würde respektiert werden, sind eher bereit, die Grenzen und Würde anderer Menschen anzunehmen als Kinder, die dies nicht erleben dürfen. 
  • Wenn ihr oft aneinander geratet und es Dir schwerfällt, Deine eigenen Anteile an der Eskalation zu erkennen, scheue Dich nicht davor, ein Eltern- oder Familiencoaching wahrzunehmen. 

Wir Eltern müssen nicht immer sofort die passenden Antworten auf alle Fragen parat haben. Elternschaft stellt auch für uns Erwachsene eine Entwicklungsaufgabe dar, der wir uns jeden Tag mit unseren Kindern stellen. Nehmen wir Konflikte als Chance wahr, selbst noch ein Stück weiter zu wachsen und uns und unsere Kinder besser kennenzulernen! 

Wir wünschen Dir viele spannende Erkenntnisse und viel Freude bei Deiner Spurensuche!

Alles Liebe,

Jasmin & Michael

Und hier gelangst Du zur passenden Podcast-Episode!

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