Als ich mich mit einem Elternpaar mitten im Online-Coaching befinde, erscheint deren 10-jähriger Sohn in ihrem Arbeitszimmer. „Ich will jetzt einkaufen gehen!“ Die Eltern fragen, warum er die Sitzung störe und was er denn kaufen wolle. „Eine Spielzeugpistole!“ Dann liefern sich Eltern und Kind ein Wortgefecht. Schließlich hatten sie den Jungen extra gebeten, die Sitzung nicht zu stören. Sie hatten ihm erklärt, wie wichtig ihnen das Coaching ist und dass sie sich konzentrieren müssen. Und dann stört er wegen so etwas! Nach einigem erfolglosen Bitten und Argumentieren seinerseits („Es ist schließlich mein Taschengeld!“) stürmt der Junge wieder aus dem Zimmer und knallt die Tür hinter sich zu. Die Eltern sind sichtlich erschöpft. „Was genau hat Euch an der Situation gerade so mitgenommen?“, frage ich. „Er respektiert einfach kein Nein!“ „Wirklich nicht?“, hake ich nach. Immerhin hat er gefragt, er ist nach einer halben Minute wieder verschwunden und ich glaube kaum, dass er einkaufen gegangen ist.

Sätze wie „Mein Kind respektiert kein Nein!“, „Mein Kind hat keinen Respekt vor mir!“ oder „Mein Kind hat ein Respekt-Problem!“ bekomme ich als Elterncoach fast täglich zu hören. Als Papa sind mir solche Gedanken selbst nicht fremd. Ich bohre dann gerne etwas tiefer: „Was genau meinst Du damit?”

Im umgangssprachlichen Gebrauch kann das Wort Respekt die verschiedensten Konnotationen haben:

  • „Die möglichen Spätfolgen von Corona flößen mir Respekt ein.”
  • „Bitte respektieren Sie die Anordnungen der Sicherheitskräfte!”
  • „Ich respektiere Deine politischen Ansichten, auch wenn ich sie nicht teilen kann.“ 
  • „Der mutige Einsatz der Feuerwehrleute verdient unseren vollen Respekt.“

Die Bedeutung reicht von „gerade noch tolerieren“ bis „hoch anerkennen“. Wenn über ein Kind gesagt wird, es habe keinen Respekt, ist damit in der Regel gemeint: Dieses Kind tut nicht, worum man es bittet. Egal, wie freundlich man es formuliert. Egal, wie geduldig und „kindgerecht” man sein Anliegen erläutert. Nichts davon „funktioniert“.

Das Problem: Eine Bitte, bei der wir es als unangemessen oder gar inakzeptabel betrachten, wenn unser Gegenüber nein sagt, ist in Wirklichkeit keine Bitte, sondern ein Befehl! Lange Erklärungen, höfliche Worte und ein freundlicher Tonfall ändern daran nichts. Sie verschleiern nur notdürftig die dahinter liegende Erwartungshaltung. Zu notdürftig für die feinen Antennen eines Kindes. Es spürt, dass es dann nur noch die Wahl zwischen Folgsamkeit oder Verweigerung hat. Seine*ihre eigenen Anliegen finden dazwischen kein Platz.

Tut ein Kind, was wir wollen, betrachten wir das (in Verkennung unserer privilegierten Position) als normal. Vielleicht gibt es von uns dann noch eine strategisch eingesetzte Belohnung, ein Lob oder ein Dankeschön. Tut es nicht, was wir sagen, werden wir wütend und bezeichnen unser Kind als störrisch, trotzig, egoistisch. In diesem Fall klagen wir, es teste seine Grenzen aus und provoziere uns ganz bewusst.

Allerdings: Ein Miteinander, bei dem ich erwarte, dass mein Gegenüber tut, was ich sage, ist kein gleichwürdiges, sondern ein hierarchisches, autoritäres Miteinander. Es kann den Gehorsam der Kinder befördern, aber nicht deren Integrität. Wenn ein solches Miteinander überhaupt zu Respekt führt, dann zu Respekt im Sinne von: „Ich sehe ein, dass Du als Erwachsener am längeren Hebel sitzt und ich Dir ausgeliefert bin, deswegen spiele ich Dein Spiel mit (oder ich tue wenigstens so).“ Dieser Respekt ist leicht zu haben: Man braucht seinem Kind nur das Rückgrat zu brechen. Und das geht schneller, als man denkt (wie schon von Susanne Wegner im Lied „Sind so kleine Hände“ besungen).

Und wir Erwachsenen? Der Respekt, den wir uns EIGENTLICH von unseren Mitmenschen im Allgemeinen und unseren Kindern im Besonderen wünschen, besteht wohl eher in Empathie und Wertschätzung: „Ich habe vielleicht keine Lust, Deiner Bitte nachzukommen, aber ich sehe, dass Dir die Sache wichtig ist und dass Du meine Mithilfe brauchst. Also gehe ich gerne einen Schritt auf Dich zu. Ich mag Dich und wir sind eine Gemeinschaft. Ich will mich schließlich auch wertvoll fühlen und hilfreich sein!“ Auch diese Form von Respekt ist leicht zu haben. Leicht in dem Sinne, dass es genau einen einzigen Weg dahin gibt, nämlich: selbst empathisch und wertschätzend mit den Kindern umzugehen. Jesper Juul würde sagen: eine gleichwürdige Beziehung zu leben. Mag sein, dass ich als Erwachsener viel mehr Erfahrung habe als mein Kind, aber dessen Gefühle, Wahrnehmungen und Bedürfnisse sind genauso richtig und wichtig wie meine eigenen.

Zurück zum anfänglichen Beispiel. Auch, wenn das der 10-Jährige vermutlich nicht nachvollziehen konnte: Seinen Eltern war es wirklich wichtig, während der Coaching-Sitzung ungestört zu sein. Das ist legitim. Auch, wenn die Eltern allen Grund haben, sich über die Störung zu ärgern: Die Idee des 10-Jährigen, sich genau in diesem Augenblick eine Spielzeugpistole zu kaufen, ist genauso legitim. Unabhängig davon, ob wir als Erwachsene das verstehen. Die Eltern dürfen dennoch nein sagen. Der Junge darf sich ärgern, wenn ihm sein Wunsch trotz aller Bitten und Argumente verwehrt wird. Es ist ok, dass die Eltern laut werden. Es ist ok, wenn der Junge die Tür knallt. Oder besser gesagt: Es ist, wie es ist. Er ist vielleicht noch kein Meister der Gewaltfreien Kommunikation oder kann diese Fähigkeiten gerade nicht abrufen. Und wenn die Eltern sich über das Türknallen ärgern, ist auch das, was es ist: menschlich.

Die Ideen, die Gefühle oder das Nein eines anderen zu respektieren, heißt eben nicht, jeder Bitte nachzugeben, jeden Wunsch zu erfüllen, sich immer klaglos zu beugen und oder Gefühlsausbrüche apathisch über sich ergehen zu lassen. Es heißt nur: Ich bin ok, Du bist ok. Meine Gefühle, Bedürfnisse, Wünsche, Ideen dürfen so sein, wie sie gerade sind. Deine aber auch. Eine Prise Wohlwollen kann dabei nicht schaden, denn Kinder agieren immer für sich und nicht gegen ihre Eltern. Kinder wollen kooperieren. Immer.

Und wie könnte das dann konkret aussehen? Vielleicht in etwa so (und ja, ich weiß auch, dass ein respektvolles Agieren in konkreten Auseinandersetzungen schwerer ist als beim Schreiben am Laptop):

„Ach Mensch, es ärgert mich, dass Du jetzt hier reinplatzt. Ich hatte gehofft, dass Du uns ungestört arbeiten lässt.” (Ich-Botschaft) Hm, die Spielzeugpistole scheint Dir ja wirklich wichtig zu sein. (Anerkennung) Du würdest am liebsten jetzt gleich zum Laden gehen und Dir eine kaufen? (Antwort anhören; Interesse bezeugen) Ich sehe, wie wichtig Dir das gerade ist, aber ich möchte das jetzt nicht. Ich möchte jetzt ungestört weiter arbeiten. Bitte geh jetzt wieder.“ Danach: Sich wieder der eigenen Sache zuwenden. Und dabei nicht etwa erwarten, dass das Kind sofort aufgibt und geht, ohne seinem Ärger Luft zu machen.

Noch einmal: Es geht nicht darum, wie im Grönemeyer-Song „den Kindern das Kommando“ zu geben. Es geht „nur“ darum, die eigene Haltung zu überdenken. Der erste Schritt dahin: sich der eigenen Privilegien und der eigenen Momente von Doppelmoral bewusst zu werden, sofern man welche hat.

Es soll ja angeblich Erwachsene geben, die manchmal Denkmuster haben wie diese hier:


Wie ich mich selbst wahrnehme

Wie ich mein Kind wahrnehme

„Wenn ich etwas von meinem Kind möchte, bitte ich es ganz freundlich. Aber wenn es sich beim dritten Mal immer noch weigert, werde ich lauter und deutlicher. Schließlich habe ich ein wichtiges Anliegen.”

„Mein Kind stellt manchmal so absurde Forderungen! Und dann hat es keinerlei Verständnis, wenn man nein sagt. Stattdessen wird es nur immer lauter und penetranter!”

„Wenn ich lange argumentiere, dann weil ich meinem Kind eine Sache verständlich machen möchte. Ich möchte schließlich, dass es einsieht, wie vernünftig meine Gründe ist.”

„Wenn mein Kind lange argumentiert, dann weil es alles ausdiskutieren muss, anstatt einfach zu tun, was ich sage.“

„Wenn mein Kind mich auf die Palme bringt, bin ich aus gutem (pädagogischen) Grund wütend! Das ist quasi heiliger Zorn, der nur dazu dienen soll, dass mein Kind etwas dazulernt! Es lässt mir ja auch keine andere Wahl. Auf die freundliche Tour dringe ich offenbar nicht durch.”

„Wenn mein Kind wütend ist, dann weil es ein Hitzkopf ist und immer ein Riesendrama veranstalten muss. Trotzphase eben. Oder Pubertät. Oder ein generelles Aggressionsproblem!”

„Wenn ich 1000 mal bitte sage, dann weil ich einen modernen, freundlichen Erziehungsstil pflege.”

„Wenn mein Kind 1000 mal bitte sagt, dann weil es mir mit seinem Gebettel auf die Nerven gehen will, damit es seinen Willen bekommt.“

„Wenn ich 1000 mal am Tag nein sage, dann tue ich aus reiner Fürsorge. Kinder brauchen schließlich Grenzen. Außerdem muss ich es so oft sagen, weil mein Kind es sonst nicht hört.”

„Wenn mein Kind immer nein sagt, dann weil es ein kleiner Dickschädel ist. Und undankbar. Da reißt man sich den Hintern auf und dann, wenn man einmal um etwas bittet ...“

„Wenn ich geduldig, freundlich und hilfsbereit bin, dann liegt das in meinem gutmütigen Charakter begründet.”

„Wenn mein Kind geduldig, freundlich und hilfsbereit ist, dann weil wir es eben anständig erzogen haben.“

Schon verrückt. Mir könnte das natürlich nicht passieren 😉

Viel Freude beim Reflektieren und Ausprobieren!

Michael Zahedi
  • hey ihr, wir hören euren podcast und finden ihn voll gut, blog gefällt uns auch sehr, danke dafür

    lg georg und kathi

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