Wie Du bestimmt beim Lesen unse­rer ande­ren Texte auf die­sem Blog oder beim Anhören unse­res Podcasts schon gemerkt hast, ver­tre­ten Michael und ich eine bestimmte Haltung Kindern sowie der Elternschaft gegen­über. Diese Haltung haben wir einer­seits im Laufe unse­rer fach­li­chen Ausbildung und Berufserfahrung ent­wi­ckelt. Und ande­rer­seits hat sie sich im Laufe unse­rer eige­nen Elternschaft und Partnerschaft bewährt. Man kann das, was wir ver­tre­ten, als Bedürfnisorientierung bezeich­nen. In die­sem Artikel möchte ich Dir erklä­ren, was es damit auf sich hat, wel­che Missverständnisse im Zusammenhang mit der Bedürfnisorientierung häu­fig vor­kom­men und warum wir den­noch gerne diese Haltung ver­tre­ten.

Immer wie­der höre und lese ich davon, wie Eltern sich an der bedürf­nis­ori­en­tier­ten „Erziehung“ pro­bie­ren – und schei­tern. Oder wie in quo­ten­star­ken Medien die Rede davon ist, Eltern heut­zu­tage wür­den zu viel Gewese um ihre Kinder machen – und das habe sicher­lich mit den moder­nen, ver­weich­lich­ten Erziehungsmethoden zu tun. Mütter schrei­ben mir, sie seien am Ende ihrer Kräfte, da sie mit der Befriedigung der Bedürfnisse ihrer Kinder ihre letz­ten Kraftreserven auf­ge­ge­ben hät­ten. Sie sind ver­un­si­chert, ob es ihrem Kind zum Beispiel scha­den würde, wenn es sie es ein­mal zur Betreuung jemand ande­rem anver­trauen und das Kind dar­über – zumin­dest im Moment der Übergabe – nicht glück­lich scheint.

An die­ser Stelle möchte ich gerne ein­ha­ken und zunächst ein­mal anschauen, was wir unter Bedürfnisorientierung ver­ste­hen.

Was zeichnet die Bedürfnisorientierung aus?

  • Bei der bedürf­nis­ori­en­tier­ten Elternschaft geht es um eine Haltung, wel­che die Kinder in den Blick nimmt – mit ihren evo­lu­ti­ons­be­ding­ten und ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gi­schen Voraussetzungen und Bedürfnissen. Vieles an dem, wie Kinder sich ver­hal­ten, hat sei­nen Ursprung eben in unse­rer Menschheitsgeschichte und in der Entwicklung unse­res Gehirns. Wenn wir diese Zusammenhänge ver­ste­hen und aner­ken­nen, kön­nen wir daran anset­zen und eine echte Erleichterung in unse­rem Familienalltag erle­ben.
  • Es wird ver­sucht, die­sen Bedürfnissen in der Beziehung zum Kind gerecht zu wer­den. Eltern, die sich an die­sem Konzept ori­en­tie­ren, bemü­hen sich darum, den Bedürfnissen der Kinder nach Bindung, Nähe und Geborgenheit nach­zu­kom­men. Sie wol­len einen gleich­wür­di­gen Umgang mit ihren Kindern pfle­gen.
  • Sie möch­ten ihre Kinder so anneh­men und respek­tie­ren, wie sie sind.
  • Sie bemü­hen sich, die Grenzen ihrer Kinder zu ach­ten und ihre Integrität und Würde zu bewah­ren.
  • Ganz kon­kret bedeu­tet das, dass Eltern in die­sem Erziehungsstil auf Gewalt, Strafen, Schimpfen, Manipulation und Demütigung ver­zich­ten oder sich zumin­dest darum bemü­hen, diese zu ver­mei­den.
  • Die Bedürfnisorientierung ist von Vertrauen geprägt; von grund­le­gen­dem Vertrauen in die Entwicklungs- und Lernfähigkeit der Kinder. Vom Vertrauen dar­auf, dass Kinder wert­volle Mitglieder der Gesellschaft wer­den und sich posi­tiv ein­brin­gen wol­len. Vom Vertrauen dar­auf, dass auch Verhaltensweisen, die für uns Eltern manch­mal anstren­gend sind – wie z.B. Anklammern, nächt­li­ches Aufwachen oder Trotzanfälle – ihren Sinn in der Entwicklung der Kinder haben.
  • Die Erziehungshaltung ist von der Überzeugung geprägt, dass wir Erwachsenen das Kind durch die dahin­ter lie­gen­den Bedürfnisse beglei­ten soll­ten, anstatt uns dar­auf zu kon­zen­trie­ren, ein von uns uner­wünsch­tes Verhalten abzu­stel­len.

Auch die Wissenschaften geben grünes Licht

Für mich per­sön­lich, als Diplom-Pädagogin und Science-Nerdin :-P, ist dabei wich­tig zu beto­nen, dass die Sinnhaftigkeit die­ser Erziehungshaltung inzwi­schen gut wis­sen­schaft­lich belegt ist. In den ent­spre­chen­den Wissenschaften (z. B. Pädagogik und Entwicklungspsychologie) wer­den die dazu­ge­hö­ri­gen Verhaltensweisen von Eltern zwar nicht „Bedürfnisorientierung“ genannt. Sie wer­den eher umschrie­ben. Doch es ist inzwi­schen gut nach­ge­wie­sen, dass ein fein­füh­li­ger, bindungs- und bedürf­nis­ori­en­tier­ter Erziehungsstil ganz wesent­lich dazu bei­trägt, dass ein Kind zu einem psy­chisch sta­bi­len, selbst­be­wuss­ten, erfolg­rei­chen, belieb­ten und resi­li­en­ten Erwachsenen wer­den kann. Feinfühliges und bin­dungs­ori­en­tier­tes Verhalten gel­ten als Goldstandard in der Entwicklungspsychologie und der Kleinkindpädagogik, auch wenn das im Mainstream so noch nicht ange­kom­men ist. Leider haben die ent­spre­chen­den Fachdisziplinen schein­bar ein gro­ßes Problem damit, ihre Erkenntnisse in das öffent­li­che Bewusstsein zu tra­gen. Schon allein des­halb bin ich um jede fach­lich ver­sierte Stimme froh, die es schafft, anschau­lich und ein­fach zu erklä­ren, wie eine bedürf­nis­ori­en­tierte Elternschaft gelin­gen kann.

In die­sem Zusammenhang möchte ich auch dar­auf hin­wei­sen, dass z. B. Strafen, Gewalt und auto­ri­täre Elternschaft nach­weis­lich das Risiko spä­te­rer psy­chi­scher Erkrankungen, wie z. B. Depressionen, Angststörungen, Zwangsstörungen bis hin zu Persönlichkeitsstörungen, Drogenabhängigkeit und Gewaltbereitschaft im Erwachsenenalter erhö­hen.

Ganz wich­tig dabei ist, dass es in der Bedürfnisorientierung eben nicht um ein Erziehungsprogramm geht, mit kla­ren Handlungsanweisungen an die Eltern (wie z. B. anti­au­to­ri­täre oder auto­kra­ti­sche Erziehung), son­dern es geht um eine HALTUNG. Und hier liegt, mei­ner Meinung nach, das größte Problem. Denn hier set­zen viele der Missverständnisse an.

Häufige Missverständnisse über die Bedürfnisorientierung

Der Fokus auf klare Handlungsanweisungen treibt näm­lich so einige frag­wür­dige Blüten, die es Eltern und ganz beson­ders Müttern sehr schwer machen kön­nen, lang­fris­tig die­sem Weg zu fol­gen – oder bes­ser: dem, was sie dar­un­ter ver­stan­den haben. Daher möchte ich Dir nun einige der häu­figs­ten Missverständnisse auf­zei­gen und erklä­ren, warum diese zu Problemen wer­den kön­nen. Und natür­lich will ich Dir auch Wege auf­zei­gen, wie es tat­säch­lich funk­tio­nie­ren kann.

1. Die Bedürfnisse der Kinder über alles?

Eines der größ­ten Missverständnisse über die Bedürfnisorientierung liegt darin, dass viele mei­nen, es ginge dabei aus­schließ­lich um die Bedürfnisse der Kinder. Das würde bedeu­ten, dass die Bedürfnisse der Eltern jenen der Kinder unter­ge­ord­net seien. So ist das jedoch nicht gedacht. Bedürfnisorientierung bezieht die Bedürfnisse aller Familienmitglieder mit ein! Denn eines sollte klar sein: Nur, wenn auch die Eltern auf ihre Bedürfnisse und Grenzen ach­ten und es schaf­fen, in ihrer Mitte zu blei­ben, kön­nen die Bedürfnisse der Kinder über­haupt erfüllt wer­den. Denn wie soll eine völ­lig aus­ge­zehrte Bezugsperson über­haupt noch in der Lage sein, sen­si­bel und fein­füh­lig auf ihre Kinder ein­zu­ge­hen? Überlastung, Schlafmangel und Stress sind ein gefähr­li­cher Cocktail, der das Empathievermögen senkt. Und ohne Empathie kön­nen wir kein Verständnis für die Bedürfnisse unse­rer Kinder auf­brin­gen. Sicherlich gibt es im Laufe der Elternschaft immer wie­der Zeiten und Momente, in denen wir Eltern unsere eige­nen Bedürfnisse hint­an­stel­len, um unsere Kinder gut zu beglei­ten. Dies sollte jedoch nie­mals zu einer lang­fris­ti­gen Situation oder gar einem grund­sätz­li­chen Lebensmodell mit Kindern wer­den.

2. Mama über alles?

Ganz beson­ders schwer las­tet Missverständnis Nummer 1 auf den Müttern, die nicht sel­ten mit den bes­ten Absichten die Bestimmungsmacht über ihren Körper und ihre see­li­sche Integrität mit der Mutterschaft abge­ben. Heißt es nicht, die Mutter sei die wich­tigste Bezugsperson und Babys und Kleinkinder müss­ten ganz viel Mama tan­ken für einen guten Start ins Leben? Wenn das Baby bei der Übergabe an Papa oder Oma schreit, sollte Mama nicht lie­ber doch dablei­ben und wie­der über­neh­men? Ist es über­haupt okay, ein Kind in eine Kita zu geben, wenn man es theo­re­tisch in den ers­ten vier bis sechs Jahren doch zu Hause betreuen könnte?

An die­sen Unsicherheiten und der star­ken Fokussierung auf die Mutter sind auch die pro­fes­sio­nel­len Vertreterinnen die­ser Erziehungshaltung nicht ganz unschul­dig: John Bowlby, Mary Ainsworth, William und Martha Sears – sie alle kon­zen­trie­ren sich ins­be­son­dere auf die wich­tige Rolle der Mutter als zuver­läs­sigste und wich­tigste Bezugsperson. Auch viele Mama-Blogerinnen und Mama-Instagrammerinnen oder Autoreninnen ent­spre­chen­der Erziehungsratgeber ver­mit­teln die­sen Eindruck. Sie schei­nen irgend­wie Super-Menschen zu sein, so wie sie die Bedürfnisse ihrer Kinder befrie­di­gen – und das oft sogar mit meh­re­ren Kindern – und natür­lich top-gestylt. Fest steht jedoch: Die Bedürfnisbefriedigung der Kinder ist nicht nur an eine ein­zige Person gebun­den! Vor allem nicht rund um die Uhr! Auch Papa, Oma, Opa, Cousine oder Cousin oder eine Babysitterin kön­nen Bedürfnisse nach Nähe, Geborgenheit und Trost von Babys und Kleinkindern befrie­di­gen. Im Rahmen der Bindungsforschung konnte nach­ge­wie­sen wer­den, dass Babys sich im ers­ten Lebensjahr an bis zu vier Personen eng bin­den kön­nen. Dies geschieht im Rahmen einer Bindungspyramide. Das heißt: Babys bevor­zu­gen ihre engste Bezugsperson, ganz beson­ders zum Schlafen, Trösten und bei Krankheit. In vie­len Situationen sind Babys und Kleinkindern andere Bezugspersonen aber sehr will­kom­men – ganz beson­ders, wenn es darum geht, die Welt zu erkun­den. Es ist also mit­nich­ten so, dass es Deinem Kind scha­den würde, wenn Du es ein­mal an eine ver­traute und ebenso für­sorg­li­che Person abgibst, um Dich selbst ein wenig aus­zu­ru­hen oder etwas ande­res zu erle­di­gen. Der enge Fokus auf die Mutter hat sei­nen Ursprung nicht wirk­lich in den Bedürfnissen der Kinder. Er ent­springt viel­mehr dem west­deut­schen Ideal der deut­schen Mutter und Hausfrau und unse­rer Organisation der Familie als Kleinfamilie. Wir Menschen sind jedoch Gemeinschaftswesen und zwar schon als Babys, ganz beson­ders aber als Eltern.

Autonomie ist ein Grundbedürfnis, genauso wie Geborgenheit

Ich per­sön­lich würde sogar behaup­ten, dass es gut für Kinder ist, wenn sie bereits im ers­ten, spä­tes­tens im zwei­ten Lebensjahr meh­rere enge Bezugspersonen ken­nen­ler­nen dür­fen. Dabei geht es beson­ders um Erfahrungen von Autonomie und Selbstwirksamkeit, die auch schon kleinste Kinder genie­ßen und mit Stolz erfül­len kön­nen. Wir dür­fen uns als Eltern damit ermu­ti­gen, dass wir für unsere Kinder nie­mals die ganze Welt abbil­den und dar­stel­len kön­nen. Es tut Kindern gut und gibt ihnen ein Gefühl des Gehalten-Seins in der Welt, wenn sie fest­stel­len dür­fen, dass sie nicht nur ihrer Mama ver­trauen kön­nen, son­dern auch ihrem Papa, ihrer Tagesmutter oder einer Babysitterin. Wichtig dabei ist natür­lich, dass die wei­te­ren Bezugspersonen ebenso fein­füh­lig und acht­sam mit dem Kind umge­hen, wie seine Eltern. Wenn Du gerne wei­tere Bezugspersonen für Dein Kind eta­blie­ren willst und die­sen in Bezug auf ihre Feinfühligkeit noch etwas unter die Arme grei­fen möch­test, kannst Du Großeltern, Tanten, Babysitter*innen usw. auch gerne einen Gutschein für einen mei­ner Kurse schen­ken. Dort erfah­ren enge Bezugspersonen alles, was Babys und Kleinkinder brau­chen, um sich gebor­gen zu füh­len und eine starke Persönlichkeit zu ent­wi­ckeln.

3. Kennt Bedürfnisorientierung Grenzen?

Viele den­ken, in der bedürf­nis­ori­en­tier­ten Erziehung wür­den Kindern keine Grenzen auf­ge­zeigt. Die Horrorvision von klei­nen Tyrannen geis­tert durch unsere Köpfe. Doch auch das ist wie­der ein Missverständnis. Wie in unse­ren bei­den Podcast-Folgen über Grenzen für Kinder aus­führ­lich erklärt, geht es darum, Kindern die natür­li­chen Begrenzungen ihrer Alltagswelt auf­zu­zei­gen. Und auch die Grenzen ihrer Bezugspersonen dür­fen Kinder ken­nen­ler­nen. Ich darf als Mutter oder Vater auch nein sagen, wenn ich etwas nicht möchte oder es mir zu viel wird! Dabei sind immer wie­der krea­tive Lösungen gefragt, um die Bedürfnisse aller Familienmitglieder berück­sich­ti­gen zu kön­nen. Ich darf als Elternteil die Richtung vor­ge­ben und wich­tige Eckpfeiler bestim­men. Den Gesamtüberblick und die Verantwortung – auch für das eigene Wohlergehen – tra­gen immer noch die Eltern.

4. Ist Bedürfnisorientierung anstrengend?

Viele den­ken, bedürf­nis­ori­en­tiert zu erzie­hen sei anstren­gen­der als andere Erziehungsstile. Wenn ich immer alle Bedürfnisse im Blick haben muss und auf die Wünsche der Kinder ein­ge­hen soll, anstatt ihnen ein­fach Befehle zu geben – ist das nicht anstren­gen­der? Wir den­ken: Nein. Denn eines soll­test Du wis­sen: Unerfüllte Bedürfnisse Deines Kindes (und auch von euch Eltern) ver­schwin­den nicht. Sie tau­chen nur an ande­rer Stelle wie­der auf. Zum Beispiel in Form ver­mehr­ten Schreiens, ver­mehr­ter Trotzreaktionen, Aggressionen gegen andere Kinder oder sich selbst. Bei uns Eltern füh­ren uner­füllte Bedürfnisse nicht sel­ten zu Wut und Aggressionen gegen die Kinder oder auch zu Resignation und Zynismus. Wir Eltern sind also in der Bedürfnisorientierung auf­ge­for­dert, unse­ren Alltag so zu struk­tu­rie­ren, dass auch unsere eige­nen Bedürfnisse nicht auf der Strecke blei­ben. Und viel­leicht ist es Dir auch schon ein­mal auf­ge­fal­len, dass es viel ent­span­nen­der sein kann, wenn Du es schaffst, mit den Emotionen Deines Kindes mit­zu­schwin­gen. Dass vie­les leich­ter wird, wenn Du die Emotionen und Bedürfnisse Deines Kindes nach­voll­zie­hen und mit­be­rück­sich­ti­gen kannst, anstatt gegen diese anzu­kämp­fen. Sich nur auf das Verhalten des Kindes zu kon­zen­trie­ren und dar­auf, Unerwünschtes abzu­stel­len, das (!) ist anstren­gend. Ein regel­rech­ter Kampf gegen Windmühlen.

5. Ist Bedürfnisorientierung perfektionistisch?

Manchmal ent­steht der Eindruck, dass Eltern, die bedürf­nis­ori­en­tiert han­deln wol­len, sehr unter Druck ste­hen. Klar: Wenn wir den Anspruch haben, es allen (inklu­sive uns selbst) recht zu machen und uns so sehr wün­schen, unse­rem Kind eine glück­li­che Kindheit zu schen­ken, kann das schon mal in Stress aus­ar­ten. Aber dabei geht es in der Bedürfnisorientierung nicht um Perfektion. Es geht ja um eine Haltung. Wir bemü­hen uns darum, die Bedürfnisse der Familienmitglieder im Blick zu haben und zu erfül­len. Und wenn das gelingt, ist es wun­der­bar und wir kön­nen in einen regel­rech­ten Familien-Flow kom­men.

In man­chen Situationen und Lebensumständen ist dies aber nicht zu 100 Prozent mög­lich und wir müs­sen abwä­gen. Es ist okay, wenn Dein Baby einen kur­zen Moment allein ist und schreit, weil Du, wäh­rend es noch schlief, ent­schie­den hast, kurz duschen zu gehen. Es ist okay, wenn Du, wäh­rend Dein Kind einen Schrei-Anfall hat, kurz den Raum ver­lässt, um Dich selbst zu erden. Es besteht ein sehr gro­ßer Unterschied dazwi­schen, ob ein Baby oder Kleinkind ein­mal einen Moment alleine schreit, weil es sich nicht ver­hin­dern lässt, oder ob man es mit einer pseudo-pädagogischen Absicht extra alleine schreien lässt (nach dem Motto: „Damit Du es end­lich lernst!“ oder „Damit Du lernst, alleine klar­zu­kom­men!“). Dein Kind wird im Laufe sei­ner Kindheit in vie­len klei­nen Alltagssituationen fest­stel­len, dass Mama und Papa tat­säch­lich ver­su­chen, auf seine Bedürfnisse ein­zu­ge­hen – oder eben nicht. Die spür­bare Grundhaltung macht einen Unterschied, auch wenn wir das nicht immer in Worte fas­sen kön­nen und es auch nicht immer an der Anzahl der Minuten vorm Fernseher oder der täg­li­chen Schreidauer mes­sen kön­nen.

Außerdem kann es gene­rell nicht darum gehen, Deinem Kind eine frus­tra­ti­ons­freie Umgebung zu schaf­fen. Ja, wir wol­len unnö­tige Frustrationen ver­mei­den, aber nicht das Kind vor dem Leben an sich bewah­ren. Das ist weder mög­lich noch nötig. Auch wenn Mama zum Beispiel nicht mehr alles alleine machen kann und Papa in die Einschlafbegleitung ein­ge­führt wird, kann das eine not­wen­dige Frustration für ein Kind sein, weil es eben not­wen­dig ist, dass Mama Erholung bekommt. Wenn eine Mutter ohne Entlastung irgend­wann zusam­men­bricht oder aus­ras­tet, hat das Kind nichts davon, dass sie sich vor­her auf­ge­op­fert hat.
Wie wir bereits fest­ge­stellt haben, wol­len Kinder ja wach­sen und Autonomie gewin­nen. Sie wol­len ler­nen. Diesen Bedürfnissen kann ich in einem frus­tra­ti­ons­freien Raum nicht gerecht wer­den. Lernen an sich geschieht zu einem gro­ßen Teil über Frustration – und damit meine ich nicht die Frustration über eine Strafe. Sondern die Frustration, etwas noch nicht zu schaf­fen, aber unbe­dingt kön­nen zu wol­len. Immer wie­der hin­zu­fal­len und trotz­dem nicht auf­zu­ge­ben, bis man bei­spiels­weise Laufen kann. Ein ande­res Kind auf dem Fahrrad zu sehen und zu den­ken: „Das will ich auch kön­nen!“ Einem Kind diese Art von Autonomie und Lernen zuzu­ge­ste­hen ist genau der Unterschied zu dem, was wir gemein­hin als „Helikopter-Eltern“ oder „Rasenmäher-Eltern“ ken­nen. Es ist eine Haltung, die sich vom Anspruch auf per­fekte Förderung, per­fek­tes Glück und per­fekte Harmonie ver­ab­schie­det und statt­des­sen das Leben in sei­ner gan­zen Buntheit akzep­tiert.

6. Gibt es ein „Richtig“ oder „Falsch“ in der Bedürfnisorientierung?

Ein letz­tes, ganz wesent­li­ches Missverständnis ist die Auffassung, dass die Bedürfnisorientierung Eltern ein kla­res Set an Handlungsempfehlungen gäbe, die alle Eltern zu befol­gen hät­ten. Auch hier ist eigent­lich das Gegenteil der Fall. Die Bedürfnisorientierung als Haltung ist genau des­halb so groß­ar­tig, weil sie keine pau­scha­len Antworten und keine Patent-Rezepte kennt. Denn jedes Kind ist ein­zig­ar­tig, so wie jedes Elternteil. Babys lie­ben es, getra­gen zu wer­den – aber Dein Baby sieht das anders oder Dein Rücken macht das nicht mit? Okay, dann fin­det ihr eine andere Lösung. Das Familienbett ist super, aber Du bekommst so in der Nacht kein Auge zu? Vielleicht schläft Dein Kind dann doch lie­ber in sei­nem eige­nen Zimmer und darf am Morgen für eine extra Kuschel-Einheit zu Dir kom­men. Lange Stillen ist beson­ders gut, aber Du fühlst Dich bei jedem Anlegen genervt oder Dein Baby ent­schei­det mit acht Monaten, dass es das nicht mehr braucht? Okay, denn es gibt viele Wege ein Baby oder Kleinkind zu näh­ren!

Das Konzept der Bedürfnisorientierung, so wie wir es ver­ste­hen, heißt eigent­lich, sich bewusst gegen ein Konzept zu ent­schei­den: Als Eltern schauen wir unser indi­vi­du­el­les Kind und uns selbst in unse­rer ein­zig­ar­ti­gen Situation an. Was braucht Dein Kind jetzt? Und was brauchst Du? In jeder Familie kön­nen eigene Antworten auf die drän­gen­den Fragen gewon­nen wer­den. Es geht eben darum, in sich hin­ein zu spü­ren; sich selbst zu reflek­tie­ren. Manchmal brauchst Du dabei viel­leicht Unterstützung oder einen Wink in die rich­tige Richtung. Ich hoffe, Du wirst hier auf unse­rem Blog oder in unse­rem Podcast fün­dig – ansons­ten scheue Dich nicht, uns zu fra­gen!

Fazit

Die Bedürfnisorientierung beher­zigt nicht nur die Bedürfnisse der Kinder. Sie erkennt an, dass echte Nestwärme nur dann ent­ste­hen kann, wenn auch die Eltern in ihrer Mitte ste­hen, ihre eige­nen Bedürfnisse ken­nen und ach­ten. Du darfst Dir Entlastung schaf­fen und diese auch ein­for­dern – zunächst ein­mal gegen­über Deinemr Partnerin und Deinem Umfeld und auch gegen­über Deinem Kind! Es ist wich­tig, dass Eltern in der Lage sind, ihre eige­nen Gefühle und Bedürfnisse wahr­zu­neh­men und auch zuzu­las­sen. Wut und Überforderung kannst Du als Signal betrach­ten, die Dich dar­auf hin­wei­sen wol­len, dass Du aus der Balance gekom­men bist. Vielleicht reicht es schon, diese Gefühle zuzu­las­sen und den Alltag ein klein wenig anders zu orga­ni­sie­ren. Vielleicht kann es sinn­voll sein, Dir Hilfe zu suchen. Und sieh es ein­mal so: Wenn Du Deinem Kind Deine Gefühle und Bedürfnisse zeigst und ihm zeigst, wie Du damit umge­hen kannst – dass Du etwas ändern oder Dir Hilfe holen kannst – dann kannst Du zu einem ech­ten Vorbild wer­den. Dein Kind kann dann von Dir ler­nen, mit schwie­ri­gen Situationen, mit Wut, Trauer, Frust und Enttäuschung umzu­ge­hen. Dein Kind kann Dich als ganz­heit­li­chen Menschen ken­nen­ler­nen, der eben­falls Bedürfnisse hat und nicht unfehl­bar ist – und das stärkt euer bei­der Integrität.

Wenn Du noch Fragen zur Bedürfnisorientierung hast oder damit haderst, wie Du diese Haltung in Deinem Familienalltag umset­zen kannst, kannst Du Dich gerne an Michael oder mich wen­den – mit einer Frage für unse­ren Podcast „Familie in Beziehung“ oder in einem kos­ten­lo­sen Erstgespräch.

Übrigens: Hier findest Du eine zum Artikel passende Podcast-Episode!

Alles Liebe, Deine

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